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Wie man „Veränderung“ aufhält

Menschen und Dinge verändern sich. Das ist der Lauf der Zeit. Niemand wird je ein Leben lang der Gleiche sein. Und das ist auch gut so. Meistens. Denn auch wenn manch einer es nicht wahrhaben will, aber man kann sich auch zum negativen verändern. Ich spreche nicht einmal von Macht, oder Habgier, oder dergleichen. Oft fängt es bei kleinen, alltäglichen Dingen an. Man grüßt nicht mehr freundlich, hält anderen nicht mehr die Tür auf, schaut nur noch auf sich selbst und kriegt nicht mehr mit, was um sich herum passiert.

Schlimm oder tragisch sind diese Veränderungen aber selten für einen selbst. Am härtesten bekommen die Menschen die Veränderungen zu spüren, die einem nahe stehen. Freunde, Familie, Bekannte. Sie alle müssen unter den Veränderungen „leiden“. Was aber, wenn sich nicht ein Mensch alleine zum negativen verändert hat? Was, wenn es eine ganze Gruppe, ein Kollektiv, eine Gemeinschaft sich in diese Richtung verändert hat, und diese Veränderung andere Menschen, die ohnehin „so sind“ anziehen?

Genau diesen Fall erlebe ich seit etlichen Jahren in der deutschen Anime-Szene, oft sogar am eigenen Leib. Als die Animeszene vor 14 Jahren in Deutschland das erste Mal eine Größe erreichte, die beachtlich, aber für die Außenwahrnehmung vernachlässigbar war, da hatten wir nur uns. Es gab nur eine handvoll Otakus, und man war froh, auf Conventions auf Gleichgesinnte zu treffen. Und mehr noch, man war ein Stück weit aufeinander angewiesen, und konnte so die anderen Mitglieder dieser Szene für das wertschätzen, was sie dazu beitrugen. Jemand konnte japanisch? Großartig. Jemand war super gut im Zeichnen? Klasse! Jemand hatte ein tolles Kostüm geschneidert? Umwerfend!

Cosplaywettbewerbe gab es auch damals schon. Aber sie hatten nicht die Dimensionen heutiger „Contests“. WCS, ECG, EuroCos und DCM waren damals (mit Ausnahme vielleicht des WCS) noch nicht einmal erfunden. Und sselbst beim Cosplaywettbewerb gab es eine Sache, die ganz klar im Vordergrund stand: Spaß! Wir haben uns nicht nur für den Sieger gefreut, sondern für jeden Teilnehmen. Und nicht für jemanden, sondern auch über sie, die uns mit den vielfältigsten Bühnenshows unterhalten haben. Showgruppen wie Yume oder Tsuki no Senshi waren für uns nicht die Stars, weil sie so professionell waren, sondern weil wir es respektierten, dass sie ihre Freizeit geopfert haben, um uns eine Show zu liefern und uns zu erfreuen. Es war – wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf – eine tolle Zeit, auf die ich gerne zurückblicke.

„Doch nichts im Leben ist unendlich“, sagte der Graf im Unheilig-Song „Zeit zu gehen“. Und so schien es auch in der Animeszene zu sein. Denn mit der breiten Masse an Manga und Anime, die seit 2002 in Deutschland verfügbar war, wuchs auch die Fangemeinde, und aus den ursprünglich knapp 5000 Connichibesuchern, wuchs binnen weniger Jahre eine Veranstaltung heran, die Fans unterschiedlichster Ausprägung anzog. Und nicht nur die Conventions zogen Fans an. Nein, auch Showgruppen, Fanprojekte oder Cosplayer wurden idolisiert und zum Nonplusultra der Szene erhoben. Aus kleinen Gruppen, die „von Fans für Fans“ ihre Freizeit zum Spaß opferten, wurden „Stars“ vergöttert. Nicht weil SIE es wollten, sondern weil ihre FANS es wollten.

Und wenn die Fans nicht bekamen, was sie wollten? Tja, dann machte man eben etwas eigenes. Und dieses „Eigene“ war natürlich viel besser, als das, was schon da war. Die „Neulinge“ zettelten Konkurrenzkämpfe an. Es zählte nicht mehr, die Besucher zu unterhalten. Es ging darum, besser zu sein, als die anderen. Freute man sich zu anfang, wenn man jemanden traf, der den selben Charakter cosplayte, wie man selbst, suchte man nun nach Fehlern, die der andere gemacht, und man selbst vermieden hatte. Dabei ging es anfangs noch um „harmlose“ Dinge, wie schiefe Nähte und vielleicht auch falsche Schnitte. Mittlerweile werden aber die Cosplayer selbst kritisiert. Die Körpermaße stimmen nicht (ich wurde selbst schon als „fette Jeanne“ bezeichnet), die Größe war falsch, und überhaupt sei man selbst ja sowieso die einzig wahre >Hier beliebigen Charakter einfügen<.

Auch die Showgruppen konkurrierten miteinander. Nein, nicht die Gruppen selbst, die Fans. Natürlich. War es früher besonders die Vielfalt an unterschiedlichsten Showgruppen und Showacts, ist es heute eigentlich mehr oder weniger „immer das gleiche“. Klar, jeder bringt seine Eigenarten rein, sodass man Gruppe A von Gruppe B unterscheiden kann. Aber mit etwas mehr Abstand betrachtet ist es immer das selbe Schema, das im Hintergrund zum Vorschein kommt. Comedy-Musicalprogramme mit Crossover zwischen zwei oder mehr Serien. Bei den Sängern möglichst nah am Original dran (sowohl musikalisch als auch stimmlich… achja, und natürlich optisch! Wer nicht so aussieht oder so klingt wie Charakter XY, der fällt unten durch). Bei den Zeichnern möglichst so, wie die Fans es gewohnt sind, bloß kein eigener, individueller Stil…

Fans sind in jeder Konstellation der entscheidende Faktor. Die Passiven der Szene. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Bei den Fanprojekten zum Beispiel. Hier sind es die Projekte selbst, die sich gegenseitig despektierlich verhalten. Es geht schließlich darum, möglichst alle Fans auf seine Seite zu holen. Und manch ein Projekt ist an diesem Konkurrenzkampf zugrunde gegangen.

Was hat zu der Veränderung geführt? Darüber kann man seitenlange Dissertationen und Doktorarbeiten veröffentlichen. Da ich aber weder Wissenschaftlerin noch Studentin bin, kann ich hier nur meine eigenen Empfindungen und Gedanken niederschreiben. Ich glaube nicht einmal, dass sich die Szene „verändert hat“. Sie ist nur in der falschen Richtung großgeworden. Wie ich eingangs erwähnt habe ziehen die „negativen Personen“ andere „Negative Personen“ an. Freund A ist ein Konkurrenzkämpfer, der sich immer mit allen messen möchte. Das findet Freund B cool, und unterstützt Freund A. Schon sind es zwei. Und wie beim Schneeball wird es größer und größer. Eigentlich sollte man meinen, dass es auch in die andere Richtung funktioniert, dass die positiven Personen ebenso „anziehend wirken“. Nur leider sind diese „positiven“ Personen, die wertschätzen, respektieren und anerkennen, zumindest in der Szene ausgestorben. Sie sind erwachsen geworden, haben vielleicht eine Familie, und haben die Szene hinter sich gelassen. Sie sind stille Konsumenten geworden, die immernoch Fans sind, aber nicht mehr die großen Conventions zelebrieren. Sie sitzen mit Sohn oder Tochter zuhause vorm Fernseher und verfolgen von dort die Abenteuer ihrer Anime-Helden.

Es ist also nicht die Veränderung selbst, sondern es ist das „Aussterben“ der Positivität innerhalb der Szene, die einem radikalen Konkurrenzdenken mitsamt Respektlosigkeit, Intoleranz und Homogenität Platz gemacht hat.

Und wenn du als Aktiver der Szene gefallen möchtest, wenn du Respekt und Anerkennung haben möchtest, dann nicht, weil du du bist. Sondern weil du das bist, was der Passive Teil haben möchte. Wenn du es nicht tust, dann ist dir Spott und Häme sicher, denn dann bist du ein Zielobjekt, über das man sich gemeinschaftlich lustig machen und lästern kann. Aus den Passiven Konsumenten werden Aktivisten, deren Ziel es ist, das „andere“, das „nicht so seiende“ auszumerzen, und mit allen Mitteln (von Lästern bis hin zu regelrechtem Mobbing) zu vertreiben. Denn wer nicht so ist, wie die anderen, ist peinlich.

 

Nun könnte man diesen Blogbeitrag als einen weiteren „Mimimimi, die Szene ist so blöd“-Post abtun. Eine verbitterte, alte Anime-Frau, die die glorreichen, goldenen Zeiten vermisst. Und vielleicht – man mag es mir nachsehen – ist es auch so. Aber was, wenn ich euch sage, dass ich mit dieser Ansicht nicht alleine bin?

Denn es gibt andere, die eine ähnliche Meinung dazu haben, und die trotzdem als „Idole“ der Szene gelten, die selber Aktive der Szene sind. Die sich selbst in ellenlangen Blogbeiträgen und Vlogs über die Zustände der Szene beklagen. Ich stehe also nicht alleine da, bin vielleicht verbittert, aber wenigstens zurecht.

Nun bringt ein „mimimimi“ keine Veränderung. Jeder muss bei sich selbst anfangen. Natürlich muss man nicht jeden in der Szene mögen, mit ihm „Best Friends“ werden. Aber das Schlüsselwort heißt „Toleranz“. Wer eine Showgruppe oder einen Zeichner nicht gut findet, der muss das auch nicht. Das gibt ihm aber nicht das Recht, diesen Showact oder Zeichner zu beleidigen oder zu schikanieren, sich über ihn lustig zu machen, während er seiner Leidenschaft nachgeht um die Szene um eine Facette reicher zu machen.

Und das haben mittlerweile auch die Veranstalter erkannt. Nämlich dass diese Situation exisitiert. Nicht nur in meinem Kopf oder im Kopf anderer. Sondern dass sie real ist. Das es Mobbing innerhalb dieser Szene gibt. Das aus Toleranz Intoleranz, aus Respekt Despekt und aus Zusammenhalt Ausschließlichkeit geworden ist. Niemand will, dass alles so wird wie früher, das kann es nicht. Aber was diese Veranstalter wollen, ist, dass man sich gegenseitig akzeptiert. Es geht nicht um Wertschätzung, oder Respekt, sondern um Toleranz. Das man an einer übergewichtigen Yuna vorbeigehen kann, ohne zu lästern. Das man auch einen Cosplaywettbewerbsteilnehmer nicht auslacht, nur weil er sein Kostüm nicht perfekt genäht hat. Das man einen Showact nicht ausbuht, wenn er einen Song nicht so singt, wie der Originalinterpret ihn auf CD gesungen hat, oder er – Gott bewahre – vielleicht sogar einen Song komplett anders aufgebaut hat (Rock statt Pop).

Mit diesem – man kann es sehen wie man will, aber ich sehe es so – guten Beispiel geht das Visual Culture voran. Das Visual Culture war immer eine Eventreihe, die alle angezogen hat. Und auch die Spin-Off Events wie Kabuki Rockstyle setzten dies fort. Dort mischte man – wenn auch auf zwei verschieden Floors – harte Japanische Rockmusik mit Anime-Songs. Und so mancher „Rocker“ tanzte dort zu One Piece, und so mancher Cosplayer wurde beim headbangen auf dem Rockfloor beobachtet. Denn alle hatten die gleiche Leidenschaft: japanische Musik.

Der Organisator des Visual Culture, Julian Fuhrmann, hat vor wenigen Tagen einen Beitrag auf Facebook gepostet. Er schreibt zum Beispiel „Wir möchten eine Szene, für die Respekt, Toleranz und Gleichberechtigung keine Fremdworte sind und die diese Werte auch lebt und weitergibt.“ Natürlich bezieht er sich in erster Linie auf die Visual Kei-Szene. Aber wieso sollte dieser Beitrag nicht auch für andere Szenen gelten? Er hat sich die Mühe macht, einen Verhaltenskodex zu entwerfen, der im großen und ganzen auf dem beruht, was in anderen „Szenen“ schon lange Gang und Gäbe ist. In diesem Kodex, der nicht als Gesetzestext à la „So MÜSST ihr euch verhalten“ zu verstehen ist, ist in einfachen Worten beschrieben, was er sich wünscht, und was in anderen Bereichen schon funktioniert: Toleranz, Gleichberechtigung, Akzeptanz und Respekt.

Den „Code of Conduct“, der für alle Veranstaltungen von Visual Culture Events gilt, könnt ihr hier nachlesen.

Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele diesen Code of Conduct, diesen Verhaltenskodex, leben würde. Nicht nur in der Szene, sondern auch außerhalb, im wahren Leben, im Internet, überall. Denn das, was für mich die Szene so unwirtlich, so abweisend und kalt gemacht hat, so etwas möchte ich nicht im echten Leben begegnen. Doch leider „verändert“ sich auch die echte Welt, jeden Tag, jeden Augenblick, sogar in dem Ort, den ich mal als „Freundekreis“ bezeichnet habe.

Ich möchte nicht die Uhr zurückdrehen auf 2002. Ich möchte nicht „altes zurückholen“. Ich wünsche mir nur, dass das, was die Szene für mich so einzigartig gemacht hat, dass das wieder zurückkehrt. Und mit diesem „etwas“ kommt vielleicht auch meine Vorfreude zurück, wenn die nächste Convention ansteht. Wir sind alle Teil dieser Szene, wir alle tragen dazu bei, wie wir uns gegenseitig behandeln. Aber ich fürchte, wenn es bei uns schon nicht klappt, bei uns einst so toleranten, sich gegenseitig respektierenden und wertschätzenden Menschen, dann fürchte ich, wird auch auf der großen Welt nicht funktionieren. Und das wäre mehr als nur ein Scharmützel im Kostüm auf der Bühne, das wäre unter Umständen unser aller Ende.

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