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Wieviel „Kind“ ist vertretbar?

Dies ist ein Gastbeitrag von Sascha.

 

„Nur wer erwachsen wird, und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“ (Erich Kästner)

Nur selten bringen mich Zitate von gebildeten Menschen zum Nachdenken. Nicht etwa, weil ich ungebildet bin, sondern weil solche Zitate nur sehr selten auf Facebook geteilt werden. Was das wohl über den durchschnittlichen Facebook-User aussagt? Naja, mit Snapchat-Filtern wundert mich nicht mehr viel… aber ich schweife ab.

Dieses Zitat von einem der größten deutschen Literaten unserer Zeit hat bei mir einen Nerv getroffen, und ich habe mir einige Gedanken zu diesem Thema gemacht.

Immer wieder hören wir von allein Seiten „Mach dein Ding“, oder „Tu was dich glücklich macht“, manchmal auch „Du musst dir das Kind in dir bewahren“. Tja, nur wie einfach ist das?

Als Kleinkind, haben wir alle Freiheiten. Und die nutzen wir natürlich auch. Alles ist spannend, alles ist interessant. Das haushohe Sofa genauso wie die Blumenerde aus Mamas Blumentopf. Wir wollen alles erkunden. Das zieht sich dann bis in den Kindergarten herein. Dort treffen wir das erste Mal auf andere Kinder, schließen Freundschaften, die teilweise sogar bis ins Erwachsenenalter reichen.

In der Schule kommt zu all der Neugier und der Fantasie dann noch Wissen hinzu. Lesen, schreiben, rechnen. Wir können endlich unsere Fantasie in Worte fassen, und die Welt nicht nur verwundert ansehen, sondern auch begreifen.

Doch je weiter die Schule voranschreitet, desto mehr stellen wir fest, das „Fantasie“ uns im Weg ist. Mein liebstes Fach war immer Deutsch, gefolgt von Englisch. Die Möglichkeit, dass ich, ein kleiner Gynmasiast, Ländergrenzen mit der Magie der Sprachen überwinden könnte, war für mich einfach ein Traum. Sprachen öffnen Türen (nicht nur Liebe, liebe Anna). Grammatik, Rechtschreibung, all diese Dinge waren die Schlüssel zu dem Verständnis ganzer Kulturen.

Bis … ja, bis zu jenem Tag, an dem wir das erste Mal „interpretieren“ sollten. Gedichte. Was hat dieses und jenes zu bedeuten? Nicht bloß übersetzen, sondern den Sinn dahinter sehen. Auch das war für mich eigentlich immer etwas tolles, und das tu ich auch heute noch gerne. Dinge in Texte hineininterpretieren, bzw. den Sinn von Sätzen erschließen. Songtexte müssen für mich Interpretationsspielraum haben, sonst sind sie mir zu platt.

Aber wie es nunmal ist, in der Schule ist der Lehrer Chef, und das heißt, was ER interpretiert, ist richtig. Und wenn Edgar Allen Poe den „Raben“ nur geschrieben hat, weil er Vögel mochte, dann ist das falsch, denn der Rabe ist nur „metaphorisch“. Sorry, ich sehe das anders, aber ich bin ja „nur“ Schüler.

Zum ersten Mal wurden wir in unserer Kreativität eingeschränkt. Der „Kunstunterricht“ beschränkte sich auf das Bewundern und studieren der alten Meister, und dem Abzeichnen von Bildern. Im „Musikunterricht“ analysierten wir Lieder und klassische Stücke. Selber mal kreativ werden? Pffft, schön wär’s (gut, dass ich wenigstens der Musik treu geblieben bin und mich dort jetzt austoben kann).

Und so geht es immer weiter. Auch an der Uni bekommen wir das Wissen von Generationen vorgekaut, müssen es lernen und anwenden. Kreativität? Wieso denn?

Was war ich also immer froh, wenn ich Schulschluss hatte. Dann hieß es, den ganzen Nachmittag mit meiner besten Freundin/eigentlich-Schwester verbringen. Da brodelte die Fantasie auf Temperaturen nahe der Kernschmelze. Wir erdachten ganze Universen, sponnen Geschichten, der Kassettenrekorder war unser bester Freund.  Als der kaputt ging, hatten wir ein neues „Spielzeug“, einen Camcorder, mit dem wir unsere ganz eigene Version vom „Herrn der Ringe“ drehten (die übrigens noch auf meiner Festplatte schlummert, allerdings besser geschützt als Saurons Festung).

Was war unsere Kinderzeit doch einfach nur toll. Und sie wäre es auch heute noch, wenn nicht das Erwachsensein im Weg wäre.

Denn als Erwachsener darfst du zwar Fantasie haben, aber deine Fantasie möge bitte an der Schädeldecke enden. Was bringt einem bitte ein kreativer Fließbandarbeiter?

Und genau da liegt für mich das Problem? Wozu Fantasie, wenn man sie verstecken muss? Wozu bitte Kreativität, wenn sie in den Kellern dieser Welt versauern muss? Oder anders gefragt: Wieso zählt manche Fantasie mehr als andere?

Denn auch als Kind haben wir doch alle was anderen gemacht, oder? Die einen haben den Bolzplatz unsicher gemacht, die anderen beim „Versteckspiel“ die Büsche erkundet, wieder andere haben mit Zeichnen ihre Zeit verbracht. Aber alle Hobbies, die wir als Kinder hatten, waren in den Augen der Erwachsenen gleich viel wert. Wann, bitte, hat sich das geändert?

Heute als Erwachsener sieht die Welt leider ganz anders aus. Wenn du in der Mittagspause mit Kollegen den Flur für das Endspiel Deutschland – Brasilien in Beschlag nimmst, bekommst du eine Ermahnung vom Chef (es sei denn, er spielt mit). Wer seinen Kollegen Streiche spielt, wird allzu oft als „kindisch“ oder „albern“ abgetan. Und wer – fernab der Karnevalshochburgen im Ruhrpott – Spaß am Verkleiden hat, der wird von den Kollegen bestenfalls nur mit fragenden Blicken gemustert. Wer hingegen im Schützenverein, einem Modellbauclub, oder einem Fitnessclub ist, der wird nicht schief angeschaut. Wieso?

Da stellt sich mir die Frage: Wie viel „Kind“ ist vertretbar? Wozu soll ich mir das „Kind in mir“ bewahren, wenn es eh ständig nur auf der stillen Treppe zu sitzen hat? Was also hat Erich Kästner mit seinem Satz aussagen wollen?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht hat irgendein Lehrer da draußen eine Antwort darauf. Ich kann nur interpretieren, was dieses Zitat für mich bedeutet.

Für mich heißt es, egal wie erwachsen du bist, du solltest immer auch noch ein wenig Kind sein. Und Kinder sind nun einmal fantasievoll. Kinder toben gerne, Kinder lachen, Kinder spielen Streiche, Kinder tun Dinge, die für einen Erwachsenen „merkwürdig sind“. Und genau da liegt eben mein Problem. Wenn es doch für einen Erwachsenen „merkwürdig“ ist, auf offener Straße oder im Bus laut zu singen, während es bei Kindern „normal“ ist, wie sollen wir dann „Kind bleiben“?

Um es mal etwas deutlicher zu machen: ich bin einerseits Cosplayer, d.h. ich verkleide mich als Figur aus Serien und Filmen. Andererseits bin ich aber auch erwachsen. Und während es für manche (bzw. für deren Vorgesetzte) offenbar kein Problem ist, mit Perücke und im Prinzessinnenkleid auf der Arbeit zu erscheinen, ist es für den Großteil ein Problem. Nicht etwa, weil die Vorgesetzten sich beschweren, dass es „unangemessen“ ist, sondern weil die Kollegen lästern. Es herrscht nun einmal eine gewisse „Vorgabe“, was man als erwachsener darf, und was nicht. Aber was, wenn das nicht so wäre? Wenn es mir egal wäre, ob die Person an der ALDI-Kasse türkise Haare, Lippenpiercings und Tattoos hat. Oder mir egal wäre, dass mich im Restaurant Batman bedient? Wenn ich sogar laut mitsingen würde, wenn der Busfahrer „The Show must Go On“ von Queen anstimmt. Wenn ich als Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt meine Kollegen mit Papierbällen abwerfe, während ich einen Kunden bediene, ohne dass der sich darüber empört. Wenn selbst auf den Gängen bei Gericht trotz all der Schwere und Seriösität ein gewisser „Freimut“ für das eigene „Kind in sich“ herrschen würde, und auch die vorsitzende Richterin beschwingten Schrittes zur Kantine flaniert. Selbst in unserem höchsten Gremium, dem Bundestag, wird – an passender Stelle natürlich nur – auch mal Spaß gemacht.

Also, was wäre, wenn die Gesellschaft es einfach mal zulassen würde, dass jeder auch mal das Kind in sich hervorholt, und Spaß am Leben hat. Das macht für mich nämlich das Leben aus. Wenn ich mich nicht verstellen muss, weil es sonst nicht der Norm entspräche. Schließlich bin ich Mensch, und keine Maschine. Mit meinem Kunden, während ich sein Bett aufbaue, über Anime zu quatschen, ist kein Imageschaden für die Firma. Mit dem Kollegen am Mittagstisch die Reise zum Wacken Open Air planen, während der Abteilungsleiter daneben sitzt darf einfach nicht verpönt sein. Und wenn ich Lust habe, meine Haare einfach mal grün, oder türkis zu färben, dann sollte ich das tun können, ohne eine Abmahnung zu befürchten.

Wieso muss ich der Norm entsprechen? Wieso muss ich mich der Gesellschaft beugen, nur damit andere mich akzeptieren? Wieso darf ich mich nicht so frei entfalten, wie es mir selbst das Grundgesetz gestattet? Wo soll ich denn da mein inneres Kind bewahren, das lachen möchte, Spaß am Leben haben möchte?

Also, wie viel Kind darf man als Erwachsener noch sein, bevor es unseriös, unvertretbar, oder peinlich wird? Sicherlich ist diese Frage nie endgültig zu beantworten, dafür stecken noch zu viele Stöcke in gewissen Körperöffnungen von Menschen. Ich jedenfalls werde mir künftig keine Gedanken mehr machen, wie ich auf andere Menschen wirke. Und wenn mich jemand dafür tadeln will, dann zitiere ich einfach Erich Kästner. Denn sollte man schließlich kennen. Gerade als Kind.

 

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